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18.03.2017

Das Sanatorium - Kapitel 11


Für die Urban Explorers gibt es nur noch ein Ziel: so schnell wie möglich aus dem Sanatorium verschwinden. Doch dafür müssen sie an den zwielichtigen Männern vorbei, denen sie nahezu alles zutrauen.

von Christian Dolle

Kapitel 11 - Schlechtes Karma

Die metallischen Schläge waren bis draußen zu hören. Kim zuckte zusammen und sah ängstlich zum Haus Helene, das als Schattenriss im Nachthimmel nun geradezu bedrohlich aussah. Was hatte das zu bedeuten? Hatten die Typen Acy und Sarah bereits gefunden? Wollten sie ihnen nur Angst machen? Was würden sie überhaupt mit ihnen tun, wenn sie sie entdeckten? Die Antwort auf keine der Fragen vermochte ihn zu beruhigen.

Wie die anderen suchte er den Zaun nach weiteren schadhaften Stellen ab, fand jedoch bisher keine. Warum das Gelände so gut gesichert war, wo es ohnehin weit abseits lag, wusste er nicht. Entweder hatte es schon einmal einen Unfall auf dem Gelände gegeben und der Grundstücksbesitzer hatte danach für Sicherheit sorgen müssen oder es war sogar das Werk dieser zwielichtigen Typen. Vielleicht waren sie auf eine viel größere Sache gestoßen als ihnen bis jetzt bewusst war.

Zudem überlegte er schon die ganze Zeit, ob sich schlechte Taten in einem Gebäude festsetzen konnten. An Geister glaubte er nicht wirklich, obwohl er auch nicht ausschloss, dass es Dinge zwischen Himmel und Erde gab, die mit dem Verstand nicht zu erklären waren. Und so könnte doch auf einer alten Heilanstalt so etwas wie ein Fluch liegen, wenn darin viel Leid geschehen ist. All dieses schlechte Karma sammelte sich und fortan würden immer wieder Menschen hier wirken, die Böses im Sinn hatten oder alles Handeln hier würde mit der Zeit in etwas Schlimmes münden.

Zumindest machte es den Anschein als werde das alte Sanatorium inzwischen ganz systematisch als Waffenlager von irgendwelchen Neonazis genutzt, die von hier aus ihre Geschäfte machten. Hier lagerten sie Waffen, die sie an im Untergrund operierende Organisationen lieferten und mit denen all jene Straftaten verübt wurden, die in Statistiken als rechtsextremistisch motiviert auftauchten, aber selten aufgeklärt werden konnten. Allzu abwegig fand Kim den Gedanken nicht.

Seit seiner Schulzeit hatte er sich gegen den braunen Sumpf engagiert, sich einen Ruf als linke Zecke erarbeitet und immer wieder Berichte über Neonazis und ihre Aktivitäten verfolgt. Er hatte mit Gideon und Meena auch schon Videos von Demos und Gegendemos gemacht und sich dabei eine blutige Nase geholt und war ohne zu zögern dazwischengegangen als er auf einem Bahnhof einmal miterlebt hatte, wie ein paar Rechte zwei türkische Mädchen einzuschüchtern versuchten.

Zwar wusste er, dass die rechte Szene im Harz in den letzten Jahren ruhiger geworden war, doch das musste ja nicht zwingend etwas Gutes bedeuten. Früher gab es hier relativ viele Neonazis und die verschwanden schließlich nicht plötzlich. Durchaus möglich also, dass sie im Haus Helene auf das Lager einer größeren Organisation gestoßen waren. Darum traute er diesen Typen auch alles mögliche zu und wollte unbedingt verhindern, dass die sie entdeckten.

Der Maschendrahtzaun hinter der ursprünglichen Grundstückseinfassung war allerdings dicht und drüberklettern kam wegen des Stacheldrahtes oben leider auch nicht infrage. Blieb noch eine andere Möglichkeit, die er sich jetzt durch den Kopf gehen ließ. Wenn er es schaffte, den Typen am Durchgang abzulenken, während die zwei anderen noch im Gebäude waren, konnten Meena, Gideon und die anderen vielleicht ungesehen entkommen. Je länger er darüber nachdachte, desto erfolgversprechender kam ihm diese Lösung vor.

„Hast du schon was gefunden?“, riss ihn die Stimme von Nico, der plötzlich neben ihm hockte, aus seinen Gedanken. Kim schüttelte den Kopf und damit den Schrecken ab, den Nico ihm eingejagt hatte. „Nee, aber bist du sportlich genug?“ Nicos fragender Blick veranlasste ihn, seinen Plan genauer auszuführen, doch die Reaktion war anders als erhofft. „Du spinnst doch“, entgegnete der, „wir sollen uns zum Lockvogel für ein paar Kerle machen, die wahrscheinlich vor nichts zurückschrecken? Kannst du gerne tun, aber definitiv ohne mich.“ „Ohne dich geht es aber nicht“, beharrte Kim, „es klappt nur, wenn er hinter uns beiden her ist und wir ihn verwirren können. Oder hast du etwa Schiss?“

Als ob er es geahnt hatte, zog gerade das bei Nico, der sich diese Blöße natürlich nicht geben wollte. „Also gut, ich mach mit. Aber wir werden nicht einfach vor ihm herlaufen wie der Hase vorm Wolf und hoffen, dass wir genug Haken schlagen können.“ Er wies Kim an, ein paar Steine zu sammeln, die sie werfen und ihn damit hoffentlich ein Stück weit von seinem eingenommenen Wachposten weglocken zu können. Erst wenn die anderen und insbesondere Sarah draußen und weit genug weg waren, würden sie folgen.

Schnell trommelten sie die anderen zusammen und erklärten, was sie vorhatten. „Meena, du holst Acy und Sarah und dann lauft ihr alle möglichst leise links herum um das Hauptgebäude und wenn ihr seht, dass der Weg frei ist, durch den Zaun und sofort weiter“, wies Kim die anderen an, „Nico und ich locken den Typen da auf die andere Seite und kommen nach, sobald wir sicher sind, dass ihr genug Vorsprung habt. Alles klar?“ Meena hob abwehrend die Hände und meinte dann: „Und was ist mit den beiden anderen? Die sind immer noch im Keller, aber wahrscheinlich auch ziemlich schnell   hier draußen, wenn sie merken, das hier etwas passiert.“

Nico überlegte kurz, dann schlug er vor: „Wir könnten versuchen, ins Haus zu schleichen und die in einem der Kellerräume einzusperren.“ „Viel zu riskant“, wehrte Kim ab, „Siehst du das große offene Fenster da im zweiten Stock? Wenn ich es schaffe, da reinzuwerfen, laufen sie erstmal nach oben und wir haben dadurch einen Vorsprung.“ Alles in allem klang der Plan gewagt und es gab viel zu viele Dinge, die schiefgehen konnten. Doch sie hatten keine Zeit, mussten schleunigst hier weg und so setzten sie es umgehend in die Tat um.

Natürlich verfehlte Kim das angepeilte Fenster beim ersten Wurf. Der zweite traf, allerdings war der Stein zu leicht und machte kein hörbares Geräusch. „Scheiße“, fluchte er vor sich hin. Bevor er es ein drittes Mal versuchen konnte, zielte Nico mit einem Stein auf eines der Fenster im ersten Stockwerk. Glas splitterte, für einen Augenblick schien die ganze Welt den Atem anzuhalten.

Aus dem Augenwinkel sah Kim, wie die anderen um die weit entfernte Hausecke verschwanden, dann duckte er sich mit Nico tiefer in den Schatten der Sträucher. Von drinnen hörten sie nichts, konnten sich also nicht sicher sein, ob die zwei aus dem Keller nach oben kamen. Dafür aber war der dritte Mann hellhörig geworden und ging ein paar Schritte in die Richtung aus der er das Klirren gehört hatte. Allerdings drehte er sich immer wieder um und leuchtete mit seiner Taschenlampe zum Zaun hinüber.
Kims Hand zitterte, er bekam sie unter Kontrolle, zielte und warf einen weiteren Stein. Wieder zerbarst ein Fenster und diesmal setzte sich der Wächter endgültig in Bewegung, um nachzusehen. Kim und Nico wagten es nicht, sich zu bewegen. Wenn sie jetzt der Strahl der Taschenlampe traf, war alles aus. Sie konnten nur hoffen, dass die anderen den Moment nutzten und die Flucht ergriffen.

Sie schlichen gerade am Zaun im Schatten entlang als auf einmal eine Seitentür aufgerissen wurde und die beiden anderen Männer nach draußen stürmten. Sie leuchteten mit ihren Taschenlampen umher, wussten offenbar ganz genau, dass die Steine ein Ablenkungsmanöver waren und sie hier draußen nach den Verursachern suchen mussten. „Hier ist doch noch wer“, stellte der, der vorher den Zaun bewacht hatte, fest. „Klar ist hier wer, du Vollidiot“, motzte einer der anderen, „Die sind noch auf dem Gelände. Darum geh du gefälligst wieder nach vorne und bewache den Ausgang!“

Der Angesprochene gehorchte und zog sich auf seinen Posten zurück, während die beiden anderen jetzt das Gelände absuchten. „Scheiße“, fluchte Kim so leise wie möglich, „solange der den Zaun im Auge behält und die beiden anderen hier draußen suchen, ist es nur eine Frage der Zeit, bis sie uns finden.“ Nico musste ihm wohl oder übel Recht geben. „Dann gibt’s nur eine Chance, wir müssen wieder rein und hoffen, dass sie irgendwann hinterherkommen“, stellte er fest.

Er zog Kim zum Fenster, durch das sie geräuschlos wieder einstiegen. Der sicherste Ort war vermutlich im Treppenhaus, weil sie von dort aus in alle Richtungen ausweichen konnten. Zur Not mussten sie sich dort eben die ganze Nacht über verstecken. Zu ihrem Glück gab es unter der Treppe eine dunkle Nische, in der sie sich verkriechen und sich einigermaßen sicher fühlen konnten. Von hier aus hatten sie die Eingangshalle im Blick, ohne dass sie selbst sofort gesehen werden konnten. Jetzt hieß es also warten.

Sie konnten nur hoffen, dass die drei Typen irgendwann die Lust verloren oder davon ausgingen, sie seien doch geflüchtet. „Wir könnten den Typen draußen alleine abpassen und ihn dann überwältigen, damit wir fliehen können“, schlug Nico vor. „Selbst wenn du ihm ein Eisenrohr über den Schädel hauen willst, ist das viel zu riskant“, wandte Kim ein, „Er hat einen Baseballschläger, 'ne Taschenlampe und die anderen beiden sind ruckzuck bei ihm.“ Zum Glück sah Nico das ein und erklärte sich damit einverstanden, erst einmal abzuwarten. Damit konnte es eine lange Nacht werden, eine sehr lange.


 

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