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04.03.2017

Das Sanatorium - Kapitel 9


In der Stadt entdeckt Jacky die idyllischen Seiten im Harz, während allmählich Sorgen in ihr aufkommen, was mit den anderen ist und wie es ihnen geht. Tatsächlich sind diese nicht unbegründet, wie sie feststellen muss.

von Christian Dolle

Kapitel 9 - Nacht über der Stadt

Eine ganze Weile war Jacky noch durch die Stadt gefahren, um eine zweite Tankstelle zu suchen. Die einzige, an der sie vorbeikam, war allerdings schon geschlossen. Sie war nun einmal im Harz und nicht zuhause in London und konnte vermutlich nicht mehr erwarten. Allerdings gefielen ihr die schmalen, mit Fachwerkhäusern gesäumten Straßen hier. Gerade im Mondlicht wirkte das verträumt und irgendwie märchenhaft.

Um Urlaub zu machen gefiel ihr der Harz durchaus. Es musste nicht unbedingt ein abgelegener Campingplatz und eine leerstehende Heilanstalt sein, aber das moderne Wellnesshotel, in dem sie untergekommen war, gefiel ihr ebenso wie die Landschaft mit all ihren Bergen, Wäldern und Seen und die historischen Städtchen. Diese Überlegungen waren schließlich auch der Grund, warum sie nicht direkt zum Stausee zurückfuhr, sondern an einer einladend aussehenden Bar anhielt, um sich einen Cocktail zu gönnen.

Sollte Nico mit den anderen doch durch ein zugiges und dreckiges altes Gemäuer laufen, sie wusste mit ihrer kostbaren Freizeit definitiv besseres anzustellen. Sie kam sogar mit einigen Leuten ins Gespräch, die hier Urlaub machten und deutlich spannendere Gesprächsthemen hatten als kindische Geistergeschichten. Vor allem konnten sie ihr sogar eine Werkstatt empfehlen, in der sie sich am kommenden Morgen melden konnte und in der man ihr bestimmt helfen würde. „Ich hatte dort auch schon einmal richtig Glück als ich eilig nach Frankfurt musste und eine Reifenpanne hatte“, machte ihr einer der Männer Mut.

„Und wie war das jetzt genau mit deinem Freund? Er möchte sich ein altes Haus ansehen? Um es zu kaufen oder wie?“, hakte eine der Frauen nach. „Wenn es wenigstens das wäre“, seufzte Jacky, „aber er hat sich von ein paar anderen überreden lassen, dort ein Internetvideo zu drehen.“ Ihre neuen Bekannten sahen sie irritiert an, konnten offenbar mit Youtube und allem was dazugehörte, wenig anfangen. „Also ich habe mir ja schon mal überlegt, ob wir uns hier nicht ein Ferienhaus anschaffen sollten. Nur muss man sich darum ja auch kümmern, und dazu fehlt mir dann doch die Zeit.“

Jacky ließ das Gespräch jetzt an sich vorbeirauschen und dachte nun doch an Nico. Bestimmt waren er und die anderen längst wieder zurück und er wartete auf sie. Vielleicht warteten sie sogar alle und machten sich Sorgen, weil sie so lange fortblieb. Unter dem Vorwand, müde zu sein, verabschiedete sie sich und machte sich auf den Weg zurück zum Campingplatz. Am Damm fluchte sie innerlich, dass die Sanierungsarbeiten ausgerechnet jetzt stattfinden mussten und sie dadurch gezwungen war, den langen Umweg in Kauf zu nehmen.

Auf der Piste durch den Wald fuhr sie langsam und achtete genau auf jede Bewegung. Einen Zusammenstoß mit einem Reh oder Wildschwein wollte sie unbedingt vermeiden. Dann hätte sich ihr Rückflug nämlich erledigt und sie würde hier länger festsitzen als ihr lieb war. Zudem fuhr sie ohnehin selten mit dem Auto, in der Großstadt war die U-Bahn nun einmal deutlich praktischer. Sie hätte nie zugegeben, eine unsichere Fahrerin zu sein, doch hier allein im Dunkeln wünschte sie sich geradezu eine überfüllte U-Bahn, in der sie zwar keinen Sitzplatz hatte, dafür aber auch keine Schlaglöcher und wenigstens andere Menschen um sich herum.

Als sie endlich am Campingplatz ankam, musste sie feststellen, dass von Nico und den anderen noch jede Spur fehlte. Ihr Zelt und die beiden Hütten waren noch immer verlassen und das Lagerfeuer natürlich längst heruntergebrannt. Sollten sie alle sich etwa immer noch in der alten Irrenanstalt oder was immer es war herumtreiben? Oder war womöglich doch etwas passiert, ein baufälliger Keller eingestürzt und sie brauchten Hilfe? Jacky merkte, wie sie allmählich unruhig wurde.

Wenn niemand in den Hütten war, dann konnten sie ja nur noch in dem Abrisshaus sein. Einen anderen Weg gab es in dieser Einöde zwischen Stausee und Bergen ja nicht. Sie erinnerte sich an die Geschichte zweier Jugendlicher, die in London in einen stillgelegten U-Bahntunnel geklettert waren. Niemand hatte davon gewusst und somit hatte dort auch niemand nach ihnen gesucht als sie verschwunden blieben. Erst Monate später hatten Arbeiter die Leichen der Jungen entdeckt, die, so hieß es damals, wohl von einen Obdachlosen erschreckt wurden, daraufhin flohen und in ihrer Panik einen tiefen Abwasserschacht übersahen.

Andererseits waren Nico und die anderen keine dummen Jugendlichen, zumindest klug genug, um Hilfe zu holen, falls einem von ihnen doch etwas passiert war. Dann hätten sie mit dem Auto von Sarah und Acy fahren müssen. Hatte das eben noch auf dem Parkplatz gestanden? Da sie sich nicht sicher war, nicht darauf geachtet hatte, ging sie noch einmal in Richtung Anmeldung. Der rote Honda stand, wo er die ganze Zeit gestanden hatte, also war auch nichts passiert, beruhigte sie sich. Sie hatten einfach ihre Faszination für Geister in alten Gemäuern entdeckt und darüber die Zeit vergessen.

Trotzdem ärgerte sie sich jetzt, dass sie diejenige war, die sich Sorgen gemacht und zurückgekommen war, obwohl sie ebenso gut noch in der Bar hätte sitzen können. Nico schien es ja vollkommen egal zu sein, wie sie ihren Abend verbrachte. Oder er hatte sich längst mit Sarah getröstet. Die Blicke, mit denen er sie von Anfang an betrachtet hatte, waren Jacky nicht entgangen, dafür hatte sie eine Antenne.

Während sie sich noch ärgerte und überlegte, was sie jetzt machen sollte, hörte sie plötzlich ein Geräusch, das schnell lauter wurde. Bald darauf sah sie die Scheinwerfer eines Autos unruhig die Zufahrtstraße entlangzucken. Dass hier um diese Zeit noch jemand herfuhr, verwunderte sie und als der Wagen näher kam, verbarg sie sich erst einmal im Schatten eines Baumes, um aus sicherer Entfernung zu beobachten, um wen es sich handelte.

Es waren der bullige Typ aus der Tankstelle und ein anderer mit dunklem Mantel, die ausstiegen und sich suchend umsahen. Jacky wollte schon auf die beiden zugehen als sie den Bulligen sagen hörte: „Ey, das ist die Karre von der Fotze, die vorhin bei mir an der Tanke war.“ Das war für sie ein deutliches Zeichen, sich tiefer in den Schatten zu ducken und keinen Mucks von sich zu geben.

So beobachtete sie die beiden, wie sie mit Taschenlampen über den Campingplatz liefen und ganz offensichtlich nach den Bewohnern suchten. Zum Helfen und Reparieren des Autos waren sie wohl aber nicht gekommen. Sonst hätten sie kaum ohne zu zögern das Zelt aufgerissen und wenig später auch die Türen der Hütten aufgetreten. Als das Splittern des Holzes laut durch die Nacht hallte und dabei eine Eule in einem Baum nicht weit von ihr aufschreckte, zuckte Jacky zusammen, machte sich so klein wie möglich und wagte kaum zu atmen.

„Hier ist keiner“, stellte der im dunklen Mantel fest. „Dann sind die doch oben beim Haus Helene. Umso besser“, antwortete der andere, „Norman und die anderen sind schon vorgefahren, um nach dem Rechten zu sehen.“



 

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