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21.01.2017

Das Sanatorium - Kapitel 3


Auf einem Campingplatz trafen Acy und ihre Freundin Sarah auf ein paar Youtuber, die in der Nach das verlassene Sanatorium erkunden wollen. Gemeinsam machen sie sich nun auf den Weg und stellen fest, dass die Stimmung immer düsterer wird. 

Kapitel 3 – Dunkle Geschichte

von Christian Dolle

Das Stockbrot, der Tomatensalat und auch die von Jacky und Nico besorgten Würstchen schmeckten hervorragend. Leider konnten Acy und Sarah nur belegte Brote und Kekse beisteuern, aber das tat der jetzt wieder hergestellten Stimmung keinen Abbruch. Der einsame Campingplatz mitten im Wald war genau der Ort, an dem sie jetzt sein wollte, dachte Acy und blickte versonnen in die Funken, die das prasselnde Feuer in den dunkler werdenden Himmel schleuderte.

Zum Glück hatten sich auch die anderen wieder beruhigt, wussten sie doch, dass sie an der Situation sowieso nichts ändern konnten und morgen früh alles schon wieder ganz anders aussehen würde. Jetzt ging es darum, diesen Abend zu genießen und ihn vielleicht mit einer düsteren Geschichte von Gideon zu versüßen. „Du wolltest uns erzählen, warum ihr hier seid“, drängelte Sarah und kam Acy, die ebenfalls neugierig geworden war, damit zuvor.

„Also gut. Ich mache Videos auf Youtube. Also wir. Meena ist Informatikerin und kümmert sich um alles Technische und Kim ist ein ganz brauchbarer Kameramann“, setzte er an, „Unter anderem filmen wir in Lost Places, schleichen uns in leerstehende Gebäude, erzählen ihre Geschichte und suchen nach irgendwelchen gruseligen Legenden.“ Sarah nickte, da sie Gideons Kanal ja offenbar kannte, Nico und Jacky hingegen guckten etwas spöttisch. Acy hörte erst einmal nur zu. Zwar hatte sie nicht viel mit Webvideos am Hut, doch für eine gute Geschichte war sie immer zu haben.

Das Haus Helene war Ende des 19. Jahrhunderts als Heilstätte erbaut worden, vor allem wohl für psychisch erkrankte Patienten. Während des zweiten Weltkrieges wurde es als Lazarett genutzt, allerdings gab es auch Gerüchte, dass die Nazis hier Menschenversuche durchführten, obwohl die meisten Aufzeichnungen darüber später vernichtet worden waren. „In den letzten Kriegstagen, so heißt es, wurden die verbleibenden Insassen auf einen sogenannten Todesmarsch durch den Harz geschickt. Die meisten von ihnen überlebten es nicht, starben an Erschöpfung oder Hunger oder wurden von den Bewachern erschossen. Und diejenigen, die fliehen konnten, wurden in den umliegenden Dörfern meist mit Argwohn und sogar Angst empfangen und wohl nicht selten auch an die Nazis verraten. Jedenfalls gab es später keine Zeitzeugen mehr und diese Schreckensgeschichte wurde aus der kollektiven Erinnerung getilgt.“

Wenn Acy seine Videos auch nicht kannte, so musste sie Gideon zugestehen, dass er fesselnd erzählen konnte. Noch dazu aus einer Epoche der deutschen Geschichte, die ihr seit jeher Gänsehaut bereitet hatte. Von den Todesmärschen in den letzten Kriegstagen hatte sie schon öfter gehört, die grausame Vorstellung allerdings nie an sich herangelassen. Jetzt hier in der Dämmerung und so nah an einem Ort, an dem schier Unvorstellbares passiert war, konnte sie es nicht mehr einfach wegschieben. Es kam ihr vor als sei der Wind merklich aufgefrischt und eine Gänsehaut breitete sich auf ihrem Körper aus.

„Zu Zeiten der DDR wurde das Gebäude weiterhin als Heilanstalt genutzt, nach der Wende wechselte es dann mehrmals den Besitzer und steht inzwischen seit mehr als zehn Jahren leer“, berichtete Gideon weiter. Für seinen Kanal wollten er, Kim und Meena nun dort hinein und ein Video drehen. Sie hatten das schon an mehreren verlassenen Orten gemacht, sich dabei mehr oder weniger an Fakten gehalten und manchmal alles durch eine Geistergeschichte aufgepeppt. Vor allem sollte es ja um Unterhaltung gehen, um schaurige Stimmung und einfach darum, diese wunderbaren Kulissen atmosphärisch in Szene zu setzen.

„Heute Nachmittag waren wir schon einmal kurz da“, schaltete sich jetzt Meena ein, „das Gebäude sieht auch in der Sonne echt toll aus und wir haben auch schon eine ganze Menge gedreht. Aber ein paar Szenen brauchen wir auch noch bei Dunkelheit und darum wollen wir gleich noch einmal los.“ Sie sah die anderen erwartungsvoll an. „Also wenn ihr wollt, könnt ihr mitkommen“, sagte sie. „Und wenn ihr keine Angst habt“, fügte Kim mit einem Grinsen hinzu.

Sarah zuckte zusammen und zog es vor, erst einmal nichts zu sagen. „Das ist doch Kinderkacke“, kommentierte Nico abwertend. „Sehe ich auch so“, pflichtete Jacky ihm bei, „ich würde lieber wollen, dass einer von euch mich doch nochmal in die Stadt zu einer Tankstelle fährt und ich klären kann, dass morgen ein Mechaniker hier rauskommt. Schließlich muss ich nach Hannover und dort meinen Rückflug nach London erwischen.“ Ihr Blick zu Nico glich einer Aufforderung, doch der wehrte ab. „Da erreichst du heute sowieso niemanden mehr.“ „Wenn ich alleine fahre, erreiche ich sowieso mehr“, gab sie spitz zurück, „mir kann selten ein Mann einen Wunsch abschlagen. Leiht mir jemand sein Auto?“

Die anderen sagten ihr zwar, dass sie Nicos Ansicht teilten, doch Jacky ließ sich nicht von ihrem Plan abbringen. Ganz offensichtlich wusste sie ihren Willen sehr gut durchzusetzen, zur Not eben auch mit den Waffen einer Frau. Nico schien ebenfalls jemand zu sein, der selten nachgab, doch diesmal hielt er es wohl für angebracht. „Also gut, wenn du unbedingt willst, dann fahren wir nochmal die halbe Stunde in die Stadt, treffen an der Tankstelle niemanden an, der uns helfen kann und fahren eine halbe Stunde zurück durch den Wald.“

„Vergiss es, ich sagte doch, alleine erreiche ich mehr. Acy, leihst du mit deinen Autoschlüssel?“ Acy zögerte. „Ich ähm... ehrlich gesagt glaube ich auch nicht, dass das eine gute Idee ist...“ Jacky warf ihr einen Blick zu als habe sie mit dieser Weigerung die Emanzipation mit Füßen getreten und ans männliche Machogehabe verraten. „Also gut, wenn du unbedingt willst, kannst du mein Auto haben“, schaltete sich nun Gideon ein und warf ihr den Schlüssel zu, „Aber dann hört endlich alle mit dem Rumgezicke auf!“

So kam es, dass Jacky schließlich in die Stadt fuhr und die anderen sich auf den Weg zum Sanatorium machten. Allein auf dem Campingplatz wollte niemand von ihnen bleiben, so eine kleine Nachtwanderung inklusive gruseliger Geschichten machte eindeutig mehr Spaß. Noch war es nicht ganz dunkel, so dass sie den Weg noch einigermaßen erkennen konnten, trotzdem hatten sie Taschenlampen dabei und sie alle zur Not eben auch ihre Handys. „Als Urban Explorer sollte man nie alleine irgendwo einsteigen“, raunte Meena Acy zu, „und im Zweifelsfall immer dumm tun und sagen, man wusste nicht, dass sowas verboten ist. Meistens erwischt uns aber sowieso keiner, weil diese Orte wie gesagt fast vergessen sind.“

Acy gefiel der Gedanke an das leerstehende Haus immer mehr, war es doch allemal besser als wenn sie gleich nach Hause gefahren wären und der Alltag sie zurückgehabt hätte. Angst hatte sie keine, nicht mehr, seit sie seit einigen Monaten wusste, was echte Todesangst bedeutete. Seitdem hatte sie beschlossen, das Leben nur noch als Abenteuer zu begreifen und alles in die Tat umzusetzen, was sie sonst oft solange vor sich hergeschoben hatte, bis es an Bedeutung verloren hatte.

Der Weg wurde jetzt steiler und sie schalteten ihre Taschenlampen an, um nicht in eines der Schlaglöcher zu stolpern oder die Orientierung zu verlieren. Inzwischen kam doch so etwas wie Abenteuerstimmung auf, die Acy genoss, während sie Sarah immer stiller werden ließ. Ihre Freundin trottete jetzt neben Nico her, vielleicht einem Urinstinkt folgend an der Seite eines vermeintlich starken Mannes.

„Ich wollte mich mit Jacky extra hier treffen, damit meine Freundin nichts mitbekommt“, hörte Acy ihn sagen. „Ich kenne sie seit einer Fortbildung vor zwei Jahren in London, damals hatten wir was miteinander und als sie mich anmailte, dass sie jetzt in Deutschland ist, wollte ich sie natürlich wiedersehen. Da wusste ich aber noch nicht, dass sie so stressig sein kann.“ Sarah hörte ihm geduldig zu, doch Acy und Meena sahen sich nur vielsagend an. Erst eine Affäre anfangen und sich dann beklagen, dass es Stress gibt, war für sie nicht wirklich das, was einen starken Mann ausmachte.

Sie erhöhten ihr Tempo etwas und schlossen zu Gideon und Kim auf. Meena hakte sich bei ihrem Freund ein, was Acy gerade in diesem Moment ein Lächeln entlockte. „Heißt du eigentlich wirklich Kim?“, fragte sie um sich auf andere Gedanken zu bringen. „Naja, ist mein zweiter Vorname“, antwortete der, „aber der schönere und alle nennen mich so.“ Zu gerne hätte sie jetzt nach seinem ersten Vornamen gefragt, wollte aber nicht aufdringlich sein. „Ist ungewöhnlich“, kommentierte sie stattdessen. „Acy ist auch nicht gerade ein Name von der Stange“, gab Kim lächelnd zurück.

Eigentlich hieß sie ja Ann Christin, erklärte sie ihm, das war ihr aber zu spießig und so nannten sie die meisten Freunde bald nur noch A. C., was dann zu Acy wurde. Kim gefiel das, zumal er auch froh war, einen seltenen Namen abbekommen zu haben. „Bei Alt-68ern als Eltern und als Spätgeborener muss das aber wohl so sein“, meinte er, „Damian Kim wäre sicher nicht die Idee von Spießereltern gewesen.“ Sie mussten beide lachen, unterdrückten es dann aber, weil sie plötzlich das Gefühl hatten, es passe nicht zu dieser doch allmählich schaurigen Atmosphäre.

„Seht mal, da ist das Sanatorium schon“, sagte Gideon und deutete nach vorne. Vor dem dunklen Himmel zeichnete sich eine noch dunklere Fassade ab, ein scheinbar mehrstöckiges und verwinkeltes Gebäude mit einigen Mansarden im Dachgeschoss und zum Teil zerbrochenen Fenstern, in denen sich jetzt der  Mond spiegelte. Während sie näher kamen, sagte niemand von ihnen ein Wort. Zu beeindruckend war dieses Anwesen mit seinem einst wohl prunkvollen Haupthaus und den wahrscheinlich später hinzugekommenen Nebengebäuden.


 

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